DIE AUSGEGRENZTEN GEBÜCKTEN

Wir nennen ihn Stielauge, weil es immer so ausschaut, als würde er permanent gaffen. Das macht er auch oft genug, besonders wenn junge Frauen am Nebentisch sitzen. Gerne setzt er sich zu ihnen, wenn noch Platz am Tisch ist. Dann muss immer jemand an den Tisch gehen und ihn bitten sich umzusetzen oder mit dem Gaffen aufzuhören, was mit einer Diskussion endet, das er ja nichts dafür kann, da er mal eine üble Netzhautentzündung hatte und jetzt eine Brille mit Panzerglasdicken Gläsern tragen muss.

Vielleicht hat er auch recht, aber ich bin mir da nicht so sicher. Seinen wirklichen Namen kennt niemand von uns. Er ist fast jeden Tag da, manchmal auch am selben Tag mehrmals. Er ist einer von den Stammgästen, die einen „an der Klatsche haben“, wie wir immer sagen. Richtig leiden kann ihn niemand. Im Gegenteil. Soziale Kontakte hat er keine, zumindest innerhalb des Cafes, obwohl er fast jeden Tag kommt. Manchmal setzt er sich auch zu einer Mitdreißigerin, die eine mittelschwere Spastik hat. Sie kommt jeden Tag und bestellt immer das Gleiche. Einen Bauernsalat „mit einem großen Stück Käse“, einen großen Milchkaffee und anschließend ein Kristall. Über sie weiß auch niemand etwas, außer dass sie mal im Haus über ‚Lee Wong Chens‘ Karaokebar wohnte. Vielleicht wohnt sie da immer noch.

Joachim ist auch ein Stammgast. Er kommt jeden Tag. Meistens bestellt er eine Tasse Schwarztee, manchmal auch eine Apfelsaftschorle oder abends ein Kelts. Ihm diagnostizierten die Ärzte vor ein paar Jahren, das er nur noch ein paar Monate zu leben hätte. Daraufhin verprasste er sein Erspartes, lud wildfremde Gäste auf ein Getränk ein oder zwei. Dann mussten die Ärzte ihre Diagnose ändern und gaben ihm noch mehrere Jahre. Doch da war sein Geld schon weg. Jetzt lebt er von Sozialhilfe und führt Buch über seine Ausgaben. Er hat errechnet, wenn er jeden Tag fünf Euro ausgibt, kommt er mit seinem Geld bis Monatsende genau hin. Das macht er jetzt und wartet. Manchmal setzt sich einer von uns zu ihm und unterhält sich ein Weilchen mit ihm, doch meistens sitzt er allein und starrt an die Wand.

Ingolf ist kerngesund, er hat nur so etwas „an der Klatsche“. Mit ihm will niemand was von uns zu tun haben, denn wenn er erst einmal angefangen hat, auf einen einzureden, dann hört er so schnell nicht mehr auf. Und was er einem erzählt, ist esoterischer Mist. Er trinkt Literweise Kaffee. Ich habe ihn noch nie etwas anderes trinken sehen. Einen Cappuccino vielleicht mal, aber sonst? Er sitzt oft mit Horst zusammen. Horst trinkt gerne süßgespritzten Apfelwein. Gemeinsam unterhalten sie sich über ihr Karma, Flugscheiben oder über die erogenen Zonen der Frau.

Andre war auch mal Stammgast. Er trank immer Rotwein oder Apfelwein und suchte Leute, die mit ihm eine Partie Schach spielen. Er wurde immer sauer, wenn er eine Partie verlor. Irgendwann gaben wir ihm keinen Alkohol mehr, da er dann immer häufiger anfing zu singen oder andere Gäste zu belästigen. Er trank sein Bier vor dem Café und trank dann bei uns immer Kaffee. Irgendwann begann er seine Haare auf der Toilette zu waschen und besonders abends  andere Gäste und uns zu beschimpfen. Als er schließlich eine junge Frau belästigte, gaben wir ihm Hausverbot. Jetzt sehe ich manchmal am Bahnhof sein Bier trinken.

Ingo kommt meistens abends und trinkt dann ein, zwei Biobier. Er sitzt selten allein. Er findet meistens jemandem zu dem er sich setzen kann. Das Café ist für ihn ein Schutzraum, indem er sicher ist. Er ist Paranoiker. Immer sind „Sie“ hinter ihm her. Wer „Sie“ sind hat er bisher noch nicht erzählt. Aber „Sie“ sind schuld an fast allem. Das zum Beispiel seine Frau ihn verlassen hat, das er seinen Job verloren hat, das die Bank ihm den Dispo gestrichen hat. Er versteht sich gut mit Boris.

Boris ist ein Althippie, der meiner Meinung nach zu viele Drogen ausprobiert hat. Auch er ist paranoid, nur weiß er, wer „Sie“ sind. Es sind Spitzel der Polizei und des BND. Überall vermutet er sie. Auch im Café. Dann zeigt er auf die vermeintlichen Spitzel und ruft: „Hier, die sind vom BND (oder von den Bullen). Das sind Spitzel.“ Dann legt er schnell abgezählte 1,60 für den Kaffee, den er immer trinkt, auf den Tisch und verlässt überstürzt das Café.

Randolph ist auch Stammgast. Er und seine Frau Gertrud, sollen auch mal Blumenkinder gewesen sein, die auf dem letzten Trip hängen geblieben sind. Ob das allerdings stimmt, weiß ich nicht. Jedenfalls pendeln die beiden immer zwischen Psychiatrischer Anstalt und dem Leben in Freiheit. Randolph sitzt meistens allein hinten an der Tür und bastelt immer an irgendetwas herum. Er trinkt im Wechsel Kaffee und Apfelsaft. Manchmal hat er nicht genug Geld dabei, dann lässt er anschreiben und bezahlt am Monatsersten seinen Deckel. Seine Frau Gertrud ist da schon abgedrehter. Sie rennt immer ins Café rein und  ruft irgendetwas Unzusammenhängendes. Das ist oft lustig. Einmal habe ich sie in der Post erlebt. Ich stand in der Warteschlange, da kam sie in die Post gerannt und lief vor zum Schalter. Dort brüllte sie: „Wo gibt´s denn hier das Geld? Na, wo gibt´s denn hier das Geld? Ihr seid doch Scheißer! Haha. Wo gibt´s denn hier das Geld?“ Und dann rannte sie wieder raus und hinterließ jede Menge offene Münder und ungläubige Blicke. Irgendwann allerdings mussten wir auch ihr Hausverbot geben. Sie kam samstagsmorgens in den Laden mit einer großen, blauen Mülltüte, mit Haushaltsabfall gefüllt. Diese kippte sie dann mitten im Café aus und rannte raus. Seitdem habe ich sie aber auch nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich ist sie wieder in der Psychiatrie.

Sie alle gehören irgendwie dazu. Wie ein Hintergrundgeräusch. Man nimmt es wahr, aber man schenkt ihm keine große Beachtung. Und wenn es weg ist, fällt es erst viel später auf. Sie alle sind atypisch. Ihr Lebensweg ist völlig verschieden zu dem der Meisten. Sie gehören nicht zur austauschbaren Masse. Man sieht sie nie außerhalb des Cafés. Woanders sind sie unerwünscht, weil sie anders sind als die breite Masse. Das ist schon komisch. In einer Gesellschaft, die Individualität als einen der höchsten Werte propagiert, sind die wirklichen Individuen, die einsamsten Menschen, die man sich vorstellen kann. Das Café ist ihr Rückzugsort. Ihre einzige Möglichkeit am sozialen Leben teilzunehmen. Sie sind ausgegrenzte Gebückte. Eine Randgruppe.

In einem Lied von Bash heißt es: „Die Ausgegrenzten, die Gebückten, die an die Wand gedrückten, Selig sind die Verrückten.“

Ich bin mir da nicht so sicher…

Erschienen in Ausgabe #4 des gestreckten Mittelfingers

Written by Falk Fatal

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