Manches bleibt immer gleich

Gleis 2, Hauptbahnhof Mannheim. Es pisste Bindfäden vom Himmel. Der Wind pfiff mir um die Ohren. Der Horizont war ein schwarzer Strich. Davor ein endloses Grau.

Ich lief den Bahnsteig auf und ab, um mir die Wartezeit auf meinen ICE zu verkürzen. Meine Hände hatte ich tief in den Taschen meines Mantels vergraben, den Kragen hochgestellt. Ich zog den Mantel noch etwas enger. Ich fror und verfluchte die Bahn für ihre Unpünktlichkeit.

Wie an jedem anderen Tag der vergangenen Wochen, machte ich auch heute Zwischenstation in dieser trostlosen Einöde. Normal dauerte dieser Aufenthalt nur wenige Minuten. Dieses Mal „mindestens eine halbe Stunde“, wie die Bahnhofsansagerin mit leichtem Katja-Burckhardt-Lispeln durch die Sprechanlage des Bahnhofs hauchte.

Die Zeit der vermuteten Verspätung hatte ich vor dem Bahnhof an einem Kioskwagen verbracht und mich mit Bier und Spirituosen zu wärmen versucht. Ich war nicht der Einzige, der ein effektives Mittel gegen die Kälte suchte. Doch im Gegensatz zu mir, schienen die anderen Kioskkunden nicht nur für eine halbe Stunde hier gestrandet zu sein. Was für eine traurige Aussicht. Ein Leben lang Mannheim, gefangen in Quadraten und endlosem grau.

Plötzlich begann ich die Deutschpunkjugend besser zu verstehen, die ich vor einigen Wochen im örtlichen JUZ kennenlernen durfte, als meine Band dort ein Gastspiel gab.

Die örtliche Schrammelband muckte roh und holperte sich eineinhalb Stunden lang völlig unmelodisch durch ihr Programm. Das Publikum dröhnte sich derweil zu und wirkte mal wahlweise, als sei es auf LSD oder Crack. Die Verlierer von Stadt, Land, Flucht gaben sich ein Stelldichein. Und dann sprang plötzlich ein dürrer Punk mit Schlappiro auf die Bühne, zog blank und wedelte mit seinem Pimmel vor dem Publikum herum. Ein Skinhead konnte irgendwann nicht mehr. Jahrelanges Hören der Kassierer und Eisenpimmel zeigte seine Wirkung. Seine fleischigen Lippen stülpten sich über den Schaft des baumelnden Penis und begannen langsam zu saugen und zu kauen.

Das Schauspiel wirkte. Das Publikum erwachte für einen kurzen Moment aus seiner Lethargie und johlte. Es half nichts. Schlappiro blieb schlapp. Natursekt fiel aus.

Irgendwie bezeichnend für diesen Abend, für diese Stadt. Das Gegenteil von gut, ist gutgemeint. Wie zum Beispiel die vier jungen Frauen, die aussahen, wie der fleischgewordene Traum eines Friseusenfetischisten, die in einem revolutionären Akt den Backstageraum okkupiert hatten. „Mer brauche halt oinen Ort, wo mer uns schminke künne“, säuselten die Medusen und nahmen beide Sofas in Beschlag. Immer in Griffweite des Kühlschranks, um das gute Bier, das nach Deutschlands neustem EU-Kommissar benannt ist, nicht verkommen zu lassen. Dann holten sie ihre violetten Lippenstifte raus und begannen mit der Arbeit: Fein säuberlich, Lage um Lage, den Lippenstift auf die Lippen aufzutragen. Einer muss den Scheiß ja machen.

Als wir vier Stunden später das letzte Mal in den Backstageraum gingen, um unsere Sachen zu packen, hatten sie Feierabend. Die Lippenstifte waren aufgebracht. Die Lippen schimmerten in einem Farbton, der mit einem einfachen Lila oder violett nicht einmal annähernd beschrieben ist. „Kumm, jetzt lass uns mal danze gehen“, rief die Blondeste und Dauerbewellteste von ihnen den anderen zu. Dann brummten sie davon und der Zug fuhr ein. Endlich.

Ich ließ mich auf einen Sitz fallen und starrte aus dem Fenster. Vereinzelt flog ein Licht an mir vorbei. Dann erinnerte mich der Schaffner daran, was für ein Tag heute war. „Sehr geehrte Fahrgäste, herzlich Willkommen im ICE 410 nach Dortmund über Mainz und Köln. Trotz des schlechten Wetters an diesem historisch bedeutsamen Tag, hoffe ich, dass sie einen schönen 9. November hatten. Zur Feier des Tages servieren wir heute in unserem Bordbistro Rindfleisch aus Niedersachsen mit Gemüse aus Sachsen zum Vorzugspreis von 8,90 Euro“, knödelte es im rheinischen Singsang aus der Sprechanlage. In diesem Zug, in diesem Moment, war die Wiedervereinigung gelebte Realität.

Der Mann neben mir erhob sich und ging in Richtung Bordbistro. Ich blieb sitzen und mir fiel ein, wie ich den Mauerfall erlebt hatte.

Ich war damals zehn Jahre alt. Ich saß bei meinem Freund Volker auf dem Sofa. Wir schauten Transformers auf Tele 5, als am unteren Bildschirmrand ein Laufband eingeblendet wurde, das mitteilte, dass die Mauer gefallen sei. Das war uns egal. Wir hatten nur eins im Sinn.

Die Transformers-Folge steuerte auf den dramatischen Höhepunkt zu, der, wie in jeder Folge, aus einem spektakulären Kampf zwischen den verfeindeten Roboternclans bestand. Transformers war damals übrigens eine Zeichentrickserie und kein Autowerbespot, der ohne die Reize einer Megan Fox nicht auskommen kann. Und Tele 5 war damals in etwa das, was heute Super RTL ist: Ein Sender der fast rund um die Uhr amerikanische und japanische Zeichentrickserien bringt, unterbrochen von schlechten, selbstproduzierten Sendungen. Die wurden damals von Gundis Zambo moderiert, die heute im Playboy die Hüllen fallen ließ. Wie sehr sich die Zeiten doch ändern, dachte ich, starrte weiter hinaus ins Dunkel und vergrub meine Hände noch tiefer, bis auf den Grund der Taschen meines Mantels. Dort ertasteten meine Finger ein kleines, eckiges Glasfläschchen mit kurzem Hals, das ich dort wohl vergessen hatte. Meine Lippen verzogen sich zu einem leichten Lächeln. Manches bleibt einfach immer gleich.

Erstmals erschienen im Pankerknacker #23

Written by Falk Fatal

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