MEIN WECHSELGELD WAR BLEI

Es dauert manchmal nur ein paar Sekunden, und man weiß, man wäre besser im Bett geblieben. Wie heute Morgen.

Schlagermusik drang an mein Ohr und ließ mich erwachen. In einem Bruchteil von einer Sekunde kombinierte mein Gehirn, dass ich verschlafen hatte. Mein Gehirn war dazu in der Lage, weil es irgendwo, in einer hintere Ecke der Hirnplatte gespeichert hat, dass immer die Nachrichten laufen, wenn ich aufstehen soll. Heute morgen drang aber ein imposantes „Verdammt ich lieb dich, ich lieb dich nicht, verdammt ich will dich, ich will dich nicht“, an meine Ohren und kein „Gestern Abend verschluckte sich Kurt Beck an einem Labskaus und erstickte qualvoll daran.“

Gewöhnlich nächtige in einem Hochbett, das leider keine Leiter hat. In diesem Hochbett lag ich auch, als ich endlich den Wecker hörte. Damit sich der Hörer ein Bild machen kann, wie ich gewöhnlich in mein Bett und auch wieder aus diesem heraus gelange, nur soviel: Vor dem Bett stehen eine Plastikkiste und ein Nachttischschränkchen, die als Treppe dienen. Dazu kommt noch ein wenig Akrobatik, die ich trotz meinem ungelenken Erscheinungsbild erstaunlich gut beherrsche.

Leider war mein Gehirn an jenem Morgen mit der sekundenbruchteilschnelle Erkenntnis, dass ich verschlafen habe, voll ausgelastet und so vergaß es jene, eben erwähnten Konstruktionsbesonderheiten meines Hochbettes, und so schwang ich mich mit Schwung aus dem Bett.

Als mein rechter Fuß um Millimeter den Nachttischschrank verpasste, realisierte mein Gehirn, ähnlich schnell, wie schon zuvor mein verspätetes Aufwachen, dass ich heute wohl besser im Bett geblieben wäre. Und dann kam der Linoleum Boden immer näher. Was jetzt auf einen schmerzhaften Aufprall schließen lässt, wurde glücklicherweise von der schon erwähnten Plastikkiste, auf die mein Brustkorb krachte, ein wenig abgefedert. Meine beiden Knie hatten nicht so viel Glück. Diese schlugen voll auf den Boden. Einen Schmerzensschrei unterdrückte ich, wie sich das für echte Männer gehört, und brüllte stattdessen voller Inbrunst „Scheiße“. Vor Schmerz stöhnend raffte ich mich auf und schleppte mich humpelnd auf die Toilette, wo ich mich, etwas ungelenk, auf die Schlüssel plumpsen ließ und gänzlich unmännlich mein Morgenurin im Sitzen in die Schüssel laufen ließ. „Kaffee, ich brauchte Kaffee. Dieser könnte den Tag noch retten“, durchfuhr es mich. Ich erhob mich von der Kloschüssel und schleppte mich in die Küche. Ich nahm die Kanne, füllte sie mit Wasser und kippte dieses in die Kaffeemaschine. Dann der Schock beim Blick in die Kaffeedose. Gähnende Leere. Rien ne va plus. Kein Freispiel mehr drin, beziehungsweise Kaffee. Jetzt war der Tag gelaufen. Meine Laune befand sich in der Tiefgarage. Ich hatte Wut, ich hatte Hass, aber keinen Kaffee. Irgendetwas musste passieren. Sonst wäre der Amoklauf nicht mehr weit. Meine schmerzenden Knien erinnerten mich daran, dass ein Amoklauf mich sowieso nicht weit bringen würde. Eine andere Lösung musste her. Ich setzte mich an den Küchentisch und überlegte.

Wenn der Tag so beginnt, dann muss man reagieren. Sich abreagieren. Die angestaute Wut rauslassen. Man muss die negative Energie kanalisieren und sie dann fließen lassen. Was eignet sich dazu besser, als eine ordentliche Wildschweinjagd! Heute ist mein Wechselgeld Blei! Freudig erhob ich mich vom Küchenstuhl. Ich humpelte in den Hobbyraum und griff mir mein Jagdgewehr. Schnell noch angezogen, ein paar Butterstullen geschmiert, auf dem Hochstand bekommt man Hunger, und dann ging es ab in den Wald.

Mit meinen lädierten Knien fiel mir das laufen doch recht schwer, aber der Ausblick auf ein Waidmanns Heil, ließ mich die Zähne zusammen beißen. Ich sprang also in die Karre, schmiss das Gewehr auf den Beifahrersitz und los ging es in den Taunus.

Doch wenn ein Tag beschissen beginnt, dann wird er meist nicht besser. Frei nach Murphys Gesetz: „Alles, was schiefgehen kann, wird auch schiefgehen.“ Stundenlang saß ich auf meinem Hochsitz, doch kein Wildschwein ließ sich blicken. Also fraß ich meinen Frust und die mitgebrachten Butterstullen in mich rein. Stunde und Stunde verging, noch immer ließ sich kein Wildschwein blicken. Meine Laune war jetzt richtig beschissen, da konnte auch das Taubenrudel nichts ändern, das ich vom Himmel ballerte. Der Blick auf die Uhr ließ meine Laune in das zweite Untergeschoss der Tiefgarage rutschen. In einer Stunde sollte schon Bandprobe sein und ich saß immer noch auf diesem beschissenen Hochstand.

Wer schon einmal auf einem Hochstand saß, weiß, dass man diesen nicht mit übertriebener Eile herunterklettern sollte. Als ich auf dem Waldboden landete, wurde mir diese Regel schmerzhaft bewusst. Von solchen Lappalien konnte ich mich jetzt nicht stören lassen. Ich biss erneut die Zähne zusammen und schleppte mich zum Auto. Ich ließ den Motor aufheulen und mit quietschenden Reifen machte ich los. „Bloß nicht das Publikum warten lassen“, dachte ich und trat das Gaspedal noch ein bisschen weiter in Richtung Bodenblech.

Ich flog gerade am Sedanplatz vorbei – Ich hatte den Fuß noch immer voll am Gas – als mir kurz hinterm Orion eine Taube auf die Windschutzscheibe kackte. Auch das noch! Ich war sowieso geladen. Die Flinte, die auf dem Beifahrersitz lag, zum Glück auch. Ich stieg voll in die Eisen. Schlingernd kam die Karre vor der Ampel zum Stehen. Ich sprang raus, mit dem Gewehr in der rechten Hand. „Nicht mit mir“, dachte ich empört und legte an. Ich hatte den scheiß Vogel im Visier und folgte seiner Flugbahn, fast wie beim Tontaubenschießen. Als mein Finger jedoch den Abzug krümmte, gab es einen lauten Knall. Ein scheiß BMW knallte mir hinten auf die Karre drauf. Abgelenkt und erschrocken von dem Schlag, verriss ich den Schuss. Irgendwo, in einem mehrstöckigen Bürogebäude, ging eine Scheibe zu Bruch. Das scheiß Federvieh hatte ich verfehlt. Jetzt war ich richtig wütend. Ich drehte mich um, da kam schon der aufgebrachte BMW-Fahrer wild gestikulierend auf mich zu. Ich hatte keine Lust mir sein Gebrüll anzuhören. Ich zog ihm den Gewehrkolben quer durch seine scheiß Visage. Leblos sackte er zusammen. Ich schaute mir das Unheil an. Das Heck meines Wagens war im Arsch. Hinter dem BMW waren weitere Autos zum stehen gekommen. Ein Hupkonzert par excellence erklang. Aufgebrachte Autofahrer schimpften und  zeterten. „Dafür wird der BMW-Fahrer büßen müssen“, dachte ich mir. Ich bückte mich und zog sein Portemonnaie aus der Gesäßtasche. 300 Euro enthielt diese. Nicht viel, aber immerhin. Die Münzen ließ ich ihm. Der Blick auf die Uhr verriet mir, das ich mich sputen musste, wollte ich mein Publikum nicht warten lassen. Die Ampel sprang derweil auf Grün. Ich stieg in mein Auto und drehte den Zündschlüssel um. Mit einem leichten Stottern sprang die Blechkiste an. Ich ließ die Kupplung kommen und gab behutsam Gas. Der Wagen schlingerte ein wenig und kam nicht vom Fleck. „Scheiße! Heute geht auch alles schief!“, dachte ich. Ich sprang wieder aus der Karre. Ein Opel-Proll kam auf mich zu. Leichte Bierwampe, dunkles, kurzgeschnittenes Haar, ein gepflegter Schnurrbart, eine getönte Pilotenbrille auf der Nase, ein Brilli im Ohr, eine blaue Jogginghose am Unterleib – die personifizierte Dumpfheit. Im Hintergrund ertönten Polizeisirenen. Ich glaubte einen Hubschrauberrotor zu hören. Meine Augen verengten sich zu Sehschlitzen. Der Proll  trug ein weißes T-Shirt mit dem Aufdruck: „Wenn ich ein Bier wäre, würde ich mich selbst ficken“, dann stand er vor mir. „Heute fickst du niemanden mehr!“, brüllte ich ihm entgegen. Mein Gewehrkolben streichelte seinen Kopf sehr unsanft. Plötzlich war ich wieder da. Alle Schmerzen, die meinen Körper bis dahin peinigten, waren verflogen. Das Adrenalin schoss durch meinen Körper. Wie damals, Saigon 63. Ich rollte mich seitwärts ab und suchte Deckung hinter der Ampel Ecke Bismarckring/Goebenstraße. Ich fingerte eine Rauchbombe aus meiner Survivalweste und warf sie in das Menschenpulk, das sich inzwischen auf dem Bismarckring zwischen den hupenden Autos gebildet hatte. Zeit gewinnen.

Ich robbte mich davon. Die Goebenstraße hinauf.

Der Hubschrauber kam näher. Ich robbte mich weiter die Göbenstraße hoch und suchte Deckung hinter einem Baum. Der Hubschrauber war fast über mir. Sie eröffneten das Feuer. Ich griff nach meinem Bogen und fingerte einen Pfeil aus dem Köcher. Ich verließ meine Deckung, spannte den Bogen. Beschwörend murmelte ich die Worte: „Lebe für nichts, stirb für alles“ und ließ die Sehne zurück schnellen. Mit einem leisen Surren suchte der Pfeil sein Ziel und fand es. Mit einem Feuerball, der jeder Cobra 11 Folge zur Ehre gereicht hätte, explodierte der Polizeihubschrauber. Ich duckte mich, um dem Trümmerregen zu entgehen.

Dann rannte ich los. Im Zick-Zack, um den umherschwirrenden Gewehrkugeln zu entgehen. Sie wollten mich erlegen, wie ein räudiges Wildschwein. Doch den Braten würde ich ihnen nicht auftischen. Im Biergarten der Reizbar suchte ich Deckung. Bevor ich mich eingrub, warf ich eine Handgranate in den Scheiß-Laden. Ein Hinterhalt war das Letzte, was ich gebrauchen konnte. Mit geübten Griffen, baute ich mein Stand-MG auf und ballerte los. Meine Kugeln durchsiebten die heranstürmende Bullenschar. Ich schaute auf meine Uhr. „Scheiße, jetzt wird es wirklich knapp“, dachte ich. Ich musste hier weg. Ich hatte keine Zeit mehr, für Straßenkampf. Ich nahm meine zwei letzten Handgranaten und warf sie die Goebenstraße hinunter. Sie detonierten mit einem ohrenbetäubenden Lärm. Als sich der Rauch gelegt hatte, blickte ich auf eine Spur der Zerstörung zurück. Ausgebrannte Autos, Hubschraubertrümmer, ein paar brennende Sträucher, tote Polizisten. „Mein Wechselgeld ist Blei“, flüsterte ich und lachte dabei grimmig, aber für Philossifieren blieb mir keine Zeit. Ich musste weiter. Die Zeit wurde langsam bedenklich knapp.

Ich bog in die Scharnhorststraße ein und rannte in eine Menschentraube schlecht gekleideter Menschen. Jugendliche Parvenus in Holzfällerhemden, adrett frisierte Mädchen in Janis Joplin Gewänder, Hornbrillen tragende Lacoste-Polohemden-Jünger, Arbeitshosentragende Rainer Langhans-Look-a-likes, die ganze Selbsterfahrungsclique kam von ihrem Freudenbergtrip zurück ins Westend. In ihrer Mitte – ihr Guru: Rudolf Steiner. Er hob die Arme empor und predigte von den Wurzelrassen und der Reinkarnation. Ich suchte den Himmel ab. Keine Cops on Air. Hätte ich mit meinen Pfeilen bloß mal schlechter gezielt. Mein Blick zurück offenbarte verbrannte Erde. Es ist immer das selbe alte Spiel: Wenn man mal die Bullen braucht, dann sind sie nicht zur Stelle. Statt dem kleinen Steuerzahler von der Straße zu helfen, stehen sie irgendwo und notieren Falschparker, oder liegen halt tot in der Goebenstraße. Was nun? Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott, pflegte meine Mutter immer zu sagen. In meinem Kopf spielten sich Filmszenen ab. „Was ist das?“ „Blaues Licht“ antworte ich. „Was macht es?“ „Es leuchtet blau.“ Manchmal gibt einem das Leben einfache Antworten, auf komplizierte Frage. Meine Antwort lautete: Ein Mann muss tun, was ein Mann tun muss. Ich bückte mich und griff nach den Quarzkristallen, die dort lagen. Ich nahm einen und warf ihn Rudolf Steiner an den Kopf. Ich traf ihn genau auf die Stirn. Die Haut platzte auf. Blut strömte aus der klaffenden Wunde. Ich bückte mich erneut. Ein weiterer Quarzkristall in meiner Hand. Ich warf erneut und traf. Ich warf noch einen Quarzkristall und noch einen und noch einen und noch einen und noch einen. Ich steinigte ihn. Ich steinigte Rudolf Steiner mit den Quarzkristallen, die, wie dafür gemacht, hier in der Scharnhorststraße vor mir lagen. Erschrocken wichen die Jünger zurück. Ein Rainer Langhans Esoterikfreak umarmte betroffen einen Baum und begann zu singen. Ich hatte noch einen Quarzkristall in der Hand. Ich warf und traf. Er sackte zusammen. Ich ging auf den leblos am Boden liegenden Steiner zu. Ich beugte mich über ihn und stellte ihm die Frage der Fragen: „Was sagt dir dein Astralleib jetzt?“ Ich bekam keine Antwort. Dann lief ich los, wie von einem Fiebertraum gepackt. Ich hatte noch einen Termin.

Und plötzlich wachte ich auf. Ich lag auf einer Trage. Ich wurde einen Gang entlang geschoben. Das Neonlicht über mir verschwamm zu einem gelben Streifen. Ein Gesicht, besser eine Scheme, beugte sich über mich und sagte zu mir: „Keine Angst Herr Fatal. Wir werden uns ab jetzt um Sie kümmern.“

Written by Falk Fatal

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