Der alte Heydrich wohnte in der Marco-Polo-Straße in Miesbaden. Der alte Heydrich war 63 Jahre alt. Seit zwei Jahren war er Rentner. Zuvor war er Sachbearbeiter in Haftpflichtfragen bei einer örtlichen Dependance einer großen Versicherungsanstalt gewesen. Die Arbeit hatte ihm sehr viel Spaß und Erfüllung bereitet.
Er war gerne zur Arbeit gegangen.Er konnte die Kollegen in seinem Alter nicht verstehen, die sich auf die Rente gefreut hatten. Er hätte gerne ein paar Jahre weitergearbeitet, aber die wirtschaftliche Lage war schlecht und so hatte ihn der Personalchef in die Frührente verabschiedet. Ein wenig widerwillig, nachdem ihm seine Frau gut zugeredet hatte, hatte er schließlich angenommen. Die ersten paar Wochen waren hart für ihn gewesen. Er musste sich erst an seinen neuen Tagesablauf gewöhnen. 40 Jahre war er im Dienst der Versicherung gewesen. Er wachte immer noch morgens um halb sechs auf, doch jetzt hatte er nichts zu tun. Er stand zwar auf wie immer, duschte, frühstückte und dann war da nur noch Leere. Er wusste nicht was er mit seiner neu gewonnen Zeit anfangen sollte. Er langweilte sich.
Irgendwann begann er im Hausflur des Mietshauses der Marcobrunnerstraße 9 Urlaubsfotografien aus der Toskana aufzuhängen. Er fand schon immer, das der Hausflur so unpersönlich und kalt aussah. Von nun an hatte sein Leben wieder einen Sinn.
Der alte Heydrich begann die Müllverordung der Stadt Wiesbaden zu studieren. Von nun an schob er die Mülltonnen abends auf die Straße. Er ermahnte die übrigen Hausbewohner ihren Biomüll richtig zu trennen. Es gab doch tatsächlich Leute, die Zitrusfrüchte im Biomüll entsorgten. Der Biomüll wurde immer Mittwochfrüh geleert, so gegen 8.00 Uhr. Der alte Heydrich schaute Mittwochsfrüh immer aus dem Fenster und wartete darauf, das die Müllabfuhr die Biomülltonnen leerte. Manchmal verspätete sich die Müllabfuhr und die Biotonnen wurden erst etwas später geleert. Dann wurde er immer ein wenig ärgerlich. Er hasste Unpünktlichkeit. Sobald die Tonnen geleert waren, ging er zur Garderobe und griff nach seinem alten Bundeswehrparker. Den hatte er noch aus seiner Bundeswehrzeit. Eine schöne Zeit. Zwar war der Drill hart gewesen, aber Disziplin war ja nichts schlechtes und die Kameradschaft die er bei der Bundeswehr erlebt hatte, war einmalig gewesen. Abends mit den Jungs noch in der Kantine ein paar Bier kippen, das war immer sehr schön gewesen. Der alte Heydrich zog sich seinen Parker an und dann schob er die Biotonnen in den Hinterhof des Mietshauses in der Marcobrunnerstarße 9. Dann holte er seinen Gartenschlauch aus dem Keller und spritzte die leeren Biomülltonnen aus. Dann stellte er sie an ihren Platz, damit die übrigen Hausbewohner ihren Müll auch weiterhin entsorgen konnten.
Der alte Heydrich besaß einen Müllgreifer. Mit dem zog er immer um den Block und fischte den Müll auf, den unachtsame Mitbürger einfach auf den Bordstein oder gar in Vorgärten fallen ließen. Es gab jedes Jahr einen Wettbewerb bei dem der schönste Vorgarten des Rheingauviertels gesucht wurde. Mit Freude stürzte sich der alte Heydrich in die Gartenarbeit. Sein Vorgarten sollte nächstes Jahr unbedingt gewinnen. Deshalb mähte er zweimal die Woche den Rasen, kaufte Gartenzwerge und schnitt regelmäßig die Hecken. Er legte sogar einen kleinen Teich an. Er war stolz auf seinen Vorgarten. Mit einem Gefühl der Traurigkeit blickte er immer auf den Vorgarten seiner Nachbarn. Diesen ließen ihren Vorgarten zuwuchern. Das Gras wuchs dort meterhoch. Es bereitete ihm körperliche Schmerzen dies sehen zu müssen. Schließlich hielt er es nicht mehr aus und fragte seine Nachbarn, ob nicht er den Garten pflegen dürfe. Unendgeldlich natürlich. Widerwillig willigten seine Nachbarn ein und fortan durfte er auch noch deren Vorgarten zum schönsten Vorgarten des Rheingauviertels umgestalten. Deshalb wurde er immer besonders sauer, wenn seine Nachbarn ihren Vorgarten als Abstellplatz für irgendetwas benutzten. Als der Garten noch zugewuchert war, kümmerte es sie einen Dreck und sie stellten ihre Sachen in der Wohnung oder im Keller unter. Und jetzt belagerten sie den Garten damit. Das war ungerecht. Schließlich war er es gewesen, der ihnen das erst ermöglichte. Sie zeigten keinen Respekt ihm und seinen Bemühungen gegenüber.
Der alte Heydrich trank gerne badischen Rotwein. Auch mal gerne eins, zwei Gläser nach dem Mittagessen, das seine Frau Gertrude immer pünktlich um 12.00 Uhr servierte. Wenn er dann seinen Wein getrunken hatte, ging er mal öfter zu seinen Nachbarn rüber und ermahnte diese, ihren Müll ordentlicher zu trennen oder das Treppenhaus gründlicher zu putzen.
Der alte Heydrich sammelte die Tageszeitung. In seinem Keller befanden sich alle Jahrgänge der Frankfurter Allgemeinen Zeitung seit 1982. Er bewahrte die gelesenen Zeitungen immer bis Sonntag in seiner Wohnung auf, dann brachte er sie in seinen Keller und sortierte die Zeitungen einer Woche ein.
Der alte Heydrich fuhr jedes Jahr mit seiner Frau für drei Wochen in die Toskana und verbrachte dort seinen Urlaub im eigenen Urlaubshäuschen. Dies hatte er sich 1987 gekauft, um dort später einmal seinen Ruhestand zu Verbringen. In ein paar Jahren wäre die letzte Rate abbezahlt und dann wäre das Haus ihm. Er liebte die Toskana. Die Landschaft war so unbeschreiblich schön. In diesen drei Wochen machte er immer viele Fotos. Diese zeigte er dann immer während einem gepflegten Diaabend, zu welchen er immer alle Freunde und Bekannte einlud.
Den alten Heydrich ärgerte es, wenn die Kinder der Nachbarn im Hinterhof während der Mittagsruhe spielten. Dann ging er in den Hinterhof und verjagte die Kinder. Noch viel mehr ärgerte es ihn allerdings, wenn die Nachbarn ihre Fahrräder, Schubkarren oder alte Möbel im Hinterhof deponierten. Dann schrieb er immer kleine Zettel, das dies ja nicht erlaubt sei und das er die Sachen kostenpflichtig für die Besitzer entsorgen lassen würde, wenn sie die nicht innerhalb zweier Tage wegschaffen würden. Es bereitete ihm immer eine diebische Freude den Nachbarn dann durch das Fenster dabei zu zuschauen, wie sie ihre Fahrräder, Schubkarren oder alten Möbel wieder aus dem Hof schafften.
An einem Mittwochmorgen saß er wieder an seinem Küchenfenster und sah der Müllabfuhr dabei zu, wie diese die Biomülltonnen ausleerten, als es an der Tür klingelte. Verwundert sah der alte Heydrich auf die Küchenuhr, die über der Spüle hing und fragte sich wer dies wohl sein könne. Für die Post war es eindeutig zu früh und Besuch hatte sich auch nicht angekündigt. Er kam zu keinem Ergebnis und ging zur Wohnungstür. Erwartungsvoll öffnete er die Wohnungstür und blickte in die hasserfüllten Augen seines Nachbarn aus der Erdgeschoßwohung. Er fragte: „Ja bitte?“ Doch er bekam keine Antwort. Das Letzte was der alte Heydrich sah, war, wie die Axt, die der Autor dieser Zeilen hielt, auf seinen Kopf niederfuhr.
Erschienen im gestreckten Mittelfinger #4
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