„Abalonia“ heißt das neue Album von Turbostaat und das ist richtig gut geworden. Chapeau!
Neulich las ich bei Facebook einen Eintrag von Turbostaat, der ein Foto vom Speicher in Husum zeigte. Sinngemäß stand darin, dass man sich hier vor 17 Jahren zur ersten Probe traf und damals niemand dachte, dass es die Band heute noch geben wird. Und noch weniger habe man daran geglaubt, dass die Band so groß werden würde, wie sie nunmal ist. Wahrscheinlich sind Marten, Roli, Jan, Tobert und Peter damals auch nicht davon ausgegangen, jemals ein Konzeptalbum aufzunehmen. Das haben sie mit ihrem neuesten Werk, “Abalonia” genannt, aber getan. Aber wenn es in Deutschland eine Punkband gibt, die das Zeug dazu hat, ein unpeinliches Konzeptalbum aufzunehmen, dann wahrscheinlich Turbostaat. Denn kaum eine andere Punkband aus hiesigen Breitengraden erzählt in ihren Texten so viele kleine Geschichten. Warum also nicht aus den kleinen Geschichten eine Große machen? Und so erzählt das neue, das sechste Album von Turbostaat eine leider brandaktuelle Geschichte. Denn die handelt von Krieg, Flucht, Hass, Tod und dem fiktiven Sehnsuchtsort “Abalonia”, wohin die Protagonistin fliehen will.
Wer allerdings eine lineare Erzählung erwartet, kennt Turbostaat nur schlecht. Selten werden die Texte konkret, meist bleiben sie abstrakt und bieten Raum für Interpretationen – eben so, wie man Turbostaat kennt und liebt. Wenn überhaupt sind es mal einzelne Zeilen, die einen konkreten Bezug zum deutschen Winter erkennen lassen, wie zum Beispiel in “Der Wels”, wo es heißt: “Im Dunklen liegt die Oper, die Stadt ist doch viel zu nett, für die hässlichen Gedanken in euch”. Wer hier einen Bezug zur Semperoper in Dresden und zu Pegida vermutet, liegt wahrscheinlich richtig. Aber auch wenn die meisten Texte eher abstrakt bleiben, ist das nicht schlimm: Denn die Botschaft ist ein Gefühl – voller Wut, Angst, Sorge und Melancholie.
Der aufs Erzählerische gelegte Fokus hat natürlich auch Auswirkungen auf die Musik. Die löst sich zum Teil vom typischen Strophe-Refrain-Strophe-Refrain-Schema. Das Songwriting ist komplexer geworden, an manchen Stellen auch harmonischer, was sich auch an den Songlängen wiederspiegelt. Sieben der zehn Songs sind länger als vier Minuten, viele kratzen an der Fünf-Minuten-Grenze oder überschreiten diese sogar. Aber diese hinzugewonnene Komplexität tut den Liedern gut. Sie klingen trotzdem nicht überladen, sondern aus einem Guss. Das lässt sich im Übrigen auch für das komplette Album sagen. Das ist kurzweilig und gefällt mir richtig gut. Ich bin jedes Mal überrascht, dass es schon wieder rum ist. Dabei habe ich die Platte doch gerade eben erst umgedreht. Egal, weiter. Meine Favoriten unter zehn sehr guten Songs sind “Wolters” und “Abalonia”, die mir noch ein bisschen besser als die anderen acht Lieder gefallen.
Mit “Abalonia” verlassen Turbostaat altbekannte Pfade und das tut ihnen gut. Sie klingen frisch und befreit. Und dürfen sich am Ende des Jahres auf viele Platzierungen in den Top-Ten vieler Jahresbestenlisten freuen – mit Recht. Für mich das beste Turbostaat-Album seit “Schwan”.
“Abalonia” ist bei [Pias] Germany erschienen
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